Wenn die Stimme untersagt wird

Beim Schreiben der ersten Fassung dieses Beitrags sitze ich in einem Café. Im Café gibt es heute einen Liveauftritt einer Band. Drei Musiker spielen ihre Instrumente und eine junge Frau singt.

Frauen und Funktion

Lebte die junge Frau in der Welt des Romans „Vox“ von Christina Dalcher, wäre nach dem ersten Lied ihre 100 Wörter täglich aufgebraucht und sie würde sich beim zweiten schon unter Schmerzen der Elektroschocks am Boden winden. Lebte die Frau in der Welt des Romans „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood, dann trüge sie wahrscheinlich eine ausladendes rote Kutte mit einer weißen Haube, die ihr Gesicht verdeckte und Augenkontakt unterbindet. Sie wäre nicht alleine ins Café gegangen.

Anlässlich von 100 Jahren Frauenwahlrecht habe ich mir zwei Bücher ausgesucht, die uns Frauen sehr dankbar machen können darüber, was andere Frauen für uns erkämpft haben. Gleichzeitig machen sie uns auch darauf aufmerksam, was noch zu tun ist und welche Rechte wir immer wieder einfordern sollten.

Orangenscheiben und Fenchel mit Buch "Vox"

Christina Dalcher „Vox“

Im Debütroman der Amerikanerin Christina Dalcher dürfen Frauen nur 100 Wörter am Tag reden. Gezählt werden diese Wörter mit einem Armband, dass nicht abnehmbar jeder Frau und jedem Mädchen ans Handgelenk befestigt wurde. Überschreitet die Frau ihr Kontingent, dann wird sie mit elektrischen Strömen, die durch ihren Körper geschickt werden, bestraft. Frauen dürfen weder arbeiten, noch ihr eigenes Geld verwalten. Sie sind ihrem Ehemann unterstellt. Der Umbruch in dieses frauenunterdrückende System erfolgte zuerst schleichend. Dann ging es schnell. Jean arbeitet als kognitive Linguistin an der Prüfung der Sprachfunktion im Gehirn, als sie von einem Tag auf dem anderen gezwungen wird sich nur mehr als Hausfrau und Mutter zu betätigen. Sie hat zwei Söhne, wobei der ältere das neue System gut findet, aber sie hat auch die sechsjährigen Sonja, die wie sie nur begrenzt sprechen darf.

Als der Bruder des Präsidenten einen Hirnschaden hat, der genau im Forschungsgebiet von Jean liegt, wird sie gebeten bei der Entwicklung einer Heilungsform zu helfen. Jean, die sehr wütend ist, über die Beschneidung ihrer Rechte will nicht für diese Regierung arbeiten. Nach einigen Nachdenken und Verhandlungen, beschließt sie es doch zu tun, wenn ihr und ihrer Tochter im Gegenzug die Wortzähler abgenommen werden. Das Forschungsprojekt weist von Anfang an einige Unstimmigkeiten an, aber Jean ist glücklich, weil sie dort auf ihren alten Kollegen trifft, speziell der Italiener Lorenzo hat es ihr angetan. Gemeinsam finden sie heraus, dass ihre Forschung zu ganz anderen Zwecken eingesetzt werden soll, als zuerst angenommen, und Jean bekommt auch Kontakt zum Widerstand.

Margaret Atwood „Der Report der Magd“

Kein Rezensent des Romans „Vox“ ließ aus, auf dem mittlerweile schon als Klassiker gehandelten Roman von Margaret Atwood „Der Report der Magd“zu verweisen. Das war für mich ein Grund das Buch wiederzulesen. In Margaret Atwoods Welt ist es um die Gebährfähigkeit der Menschheit schlecht bestellt. Die wenigen fruchtbaren Frauen werden wie Gebährmaschinen einem Kommandanten zugeordnet. Der hat eine Ehefrau, aber auch eine „Magd“, die ihm die Fortpflanzung ermöglichen soll. Der Haushalt und die Essenzubereitung wird von „Marthas“. Das sind Frauen die der Fortpflanzung nicht würdig betrachtet werden. „Tanten“ sind Frauen jenseits der Fortpflanzung, sie übernehmen die Unterweisung der „Mägde“ und sind für die Einhaltung der guten Sitten zuständig. Desfred ist eine der Mägde. Ihren wirklichen Namen erfahren wir nicht, sie verwendet in ihren Aufzeichnungen nur den ihr zugewisenen Namen. Die Vorsilbe „Des“ ist bei allen Mägden gleich und dann folgt der Name, des Kommandanten, dem sie zugeordnet wurden. Desfred hatte in ihrem alten Leben einen Mann und eine Tochter. Die Drei sahen schon voraus, dass sich ein gesellschaftlicher Umbruch stattfinden würde, nachdem auch Desfred verboten wurde zu arbeiten. Die Familie versuchte in ein anderes Land zu fliehen, wurde dabei aber erwischt und danach getrennt. Desfred kam in ein Umerziehungslager für Mägde, da ihre Fruchtbarkeit als Mutter schon erwiesen war. Was mit ihrem Mann und ihrem Kind geschah, wurde ihr nicht gesagt. Ihr einziges Ziel muss von da an sein, schwanger zu werden. Ihre Rechte werden eingeschränkt, sie darf sich nur mit einer zweiten Magd zum Einkaufen begeben. Alle Bewegungen werden überwacht. Trotzdem nimmt sie Kontakt zum Untergrund auf. Und sie arrangierte sich mit ihrem Kommandanten, der sie heimlich zum Scrabbelspiel einladet. Auf der anderen Seite verliebt sie sich in den Chauffeur ihres Kommandanten. Als eine befreundetet, in Untergrund agierende Magd geschnappt wird, beginnt es wegen ihrer „Verfehlungen“ auch für Desfred gefährlich zu werden.

Paralellen

Die beiden Roman haben tatsächlich viele Parallelen. Nicht nur, das in beiden Romanen die Rechte der Frauen stark beschnitten sind, sie werden auch auf gewisse Funktionen reduziert. Beide Protagonistinnen sind noch das alte System der Freiheit und Selbstständigkeit der Frauen erlebt und haben den Wandel nur unter Zwang vollzogen. Jean ist in „Vox“ ist extrem wütend, während Desfred am Anfang wie betäubt wirkt. Beide haben eine rebellische Freundinnen, die schon lange vor dem Umbruch gewarnt haben und auch später sich gewagt haben, dem System zu widersetzen. Beide Protagonistinnen haben ein Tochter, für die sie sich eine freie Zukunft wünschen. Beiden haben einen Geliebten, dem eine Schlüsselrolle zukommt. Beide nehmen Kontakt zum Widerstand auf, der ihnen schließlich weiterhilft. Und das schlimmste: beiden Protagonistinnen ist es verboten zu lesen :-(.

Ich bin sicher, dass Christina Dalcher Margret Atwoods Roman kannte und versucht hat, solch eine Unterdrückungssituation in ihr Fachgebiet der Linguistik zu legen. Was sie eindrücklich zeigt, wie die Sprache uns als Menschen beeinflusst und was uns genommen wird, wenn sie beschränkt ist.

Aber auch Unterschiede gibt es. Während „Der Report der Magd“ ein offenes Ende hat, schließt Dalcher mit einem Happy End ab. Während Atwood mit Ideen freudig zu spielen scheint und eine sehr schlüssige Gesamthandlung entwickelt, wirkt Dalchers Handlung ein wenig konstruiert. Speziell zum Schluss hin geht es sich nicht mehr ganz aus, alles logisch herzuleiten. Dalcher legt in ihrer Protagonistin große Wut auf das System an, in der Hoffnung dass diese Empörung auf den Leser überschwappt und zu Anfang funktioniert das ganz gut. Atwoods Roman ist als Niederschrift von Desfred aufgesetzt, die sie Jahre nach den Erlebnissen verfasst und später als historisches Dokument gefunden wird. Es wirkst trotzdem nüchterner, weniger auf Wut und Provokation aus. Dadurch wirkt der Report aber stärker nach.

Das Böse

Was an Atwoods Roman genial ist, ist dass es da keine ausgewiesenen bösen Menschen gibt. Jeder spielt die Rolle im System, manche genießen sie mehr, mache legen ihre Macht größer aus, aber es sind Menschen die miteinander agieren. Es ist ein Netz, dass sich gegenseitig kontrolliert.

In Dalchers Roman gibt es ausgewiesenen Bösewichte, die unsympathisch ausgestattet sind und die es gilt zu Fall zu bringen. Wenn man sich nur für ein Buch dieser beiden entscheiden müsste, würde ich „Der Report der Magd“ vorziehen. Da steht mehr literarisches Können dahinter und die Fruchtbarkeit der Menschen könnte angesichts der Umweltverschmutzungen, die wir uns antun, tatsächlich in Gefahr sein.

Wichtig für uns Frauen ist, uns für unsere Rechte einzusetzen. Und jedes Mal, wenn uns ein Mann das Wort abschneidet, wenn er unsere Idee verkauft, wenn er die gesamte Redezeit vereinnahmt, wenn keine Frau am Podium sitzt, dann sollten wir wachsam sein, das ansprechen und uns wehren. Und jedes Mal wenn ein Mann über unseren Körper bestimmen will, wenn wir nach dem Status unserer Fruchtbarkeit gefragt werden, sollten wir wachsam sein. Solange wir das können.

Die Frau im Café singt noch immer.

PS: Von Margaret Atwood habe ich bereits den Roman „Das Jahr der Flut“ am Blog empfohlen. Die hellsichtige und schreibgewandte Autorin ist wirklich eine Klasse für sich!


Christina Dalcher
„Vox“
Hardcover
Originalsprache: Englisch
Übersetzt von: Marion Balkenhol, Susanne Aeckerle
Preis € (D) 20,00 | € (A) 20,60
ISBN: 978-3-10-397407-2
400 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
S. FISCHER

Margaret Atwood
„Der Report der Magd“
Piper
€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 03.04.2017
Übersetzt von: Helga Pfetsch
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31116-8